Der Herbst hat dieses Jahr am 22. September um 15.30 Uhr angefangen, sagen die Meteorologen. Für mich hat der Herbst irgendwann Anfang Oktober angefangen, als es zu kalt wurde, um ohne Jacke draußen vorm Café zu sitzen und Kaffee zu trinken. Die Luft war nicht nur zu kalt, sondern sie hatte auch eine Härte, die bis dahin nicht zu spüren war.
Vielleicht ist der Herbst auch schon ein paar Tag früher angefangen, als ich mich nach den ersten glänzenden Kastanien gebückt habe und sie aufgesammelt habe. Meine Urgroßmutter soll gesagt haben, dass man sich die erste Kastanie des Herbstes in die Jackentasche stecken soll, dann bekäme man kein Rheuma. Das habe ich jahrelang gemacht. Rheuma habe ich keines bekommen. Ob da ein Zusammenhang besteht, weiß ich nicht. Letztes Jahr habe ich mir keine Kastanie in die Tasche gesteckt. Da habe ich dann eine schwere Depression bekommen. Ob es da einen ursächlichen Zusammenhang gibt, weiß ich auch nicht, bezweifle das aber stark.
Auf jeden Fall gibt es einen ursächlichen Zusammenhang mit meiner Gewichtszunahme und meinem Antidepressivum. Und das hat mich die letzten Herbsttage sehr unglücklich gemacht. Im Herbst ziehe ich nämlich immer meine hohen Stiefel an. Zu einem kurzen Kleid und einer kurzen altrosa Lederjacke. So flaniere ich an sonnigen Herbsttagen durch die Stadt. Den Reißverschluss der Stiefel bekomme ich nicht mehr über die Waden, die Lederjacke presst mir das Atmen schwer, wenn ich sie schließe.
Also habe ich bei sonnigem Herbstwetter in einer dunkelblauen Sporthose mit Gummizug und Turnschuhen auf einer Bank im Park unter farbenfrohem Herbstlaub gesessen und geweint.
Herbst ist ein Anfang und ein Ende. Das hat Hilde Domin in ihrem Herbstgedicht wunderbar ausgedrückt: „Es knospt unter den Blättern, das nennen sie Herbst.“ Das ist mein Lieblingsherbstgedicht, aber getröstet hat mich das in meiner Misere auf der Bank nicht. Getröstet hat mich ein abendlicher Frusttausch mit einer Freundin.
Am nächsten Tag habe ich in meinen Kleiderschrank geschaut. Ein Kleid gefunden, das nur ein bisschen über dem Bauch spannt, kurze Stiefel mit hohem Blockabsatz dazu getragen und die Lederjacke offengelassen. Ein dicker Schal um den Hals hat mich gewärmt. Ich fühlte mich schick und attraktiv. Einige Männerblicke auf meine Beine haben mich auch begleitet. Das finde ich toll und anstrengend zugleich. Dunkelblaue Sporthosen mit Gummizug haben auch ihre positiven Seiten.
Aber zurück zum Herbst. Eine meiner ersten politischen Erinnerungen sind aus dem heute so genannten „Deutschen Herbst“. 1977, als ich fünf Jahre alt war, wird Anfang September Arbeitgeberpräsident Hans Martin Schleyer von der RAF entführt und wenig später ermordet. Die Fernsehbilder von dem Mann mit den dicken Lippen und mit dem Plakat in der Hand habe ich heute noch vor Augen. Auch das Entsetzen meiner Eltern und die Angst, von der ich heute weiß, dass es Angst vor dem linken Terror war. Schlimm gefürchtet in einem konservativen Haushalt.
Aber jetzt noch was Schönes zum Herbst. Mein langer Schatten hat mich heute auf meinem Spaziergang begleitet. Heute konnte ich ganz locker mit Turnschuhen und grüner bequemer Sporthose den sonnigen Herbsttag genießen. Vorbei an rot leuchtenden Hagebutten, mit den Füßen durch das Herbstlaub rascheln, das innere Kind spielen lassen.