„Aus welchem Grund würdest du emigrieren?“, fragt Claudia in Frage 11 ihrer 6o-Fragen-Challenge. Wenn mein Leben hier in Deutschland bedroht wäre, würde ich emigrieren. Ansonsten überhaupt nicht. Ich habe ein Jahr in Irland gelebt und gearbeitet und ich könnte mir vorstellen, nochmal für ein paar Monate in einem anderen Land zu leben. Aber emigrieren möchte ich nicht.
Im großen und ganzen mag ich Deutschland und ich lebe sehr gerne hier in Norddeutschland. Aufgewachsen bin ich an der Nordseeküste, jetzt lebe ich an der Ostseeküste. Ich mag, dass das Leben hier in Norddeutschland relativ entspannt ist. Ich mag, dass ich einigermaßen verstehe, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Einfach, weil ich hier aufgewachsen bin.
In Irland habe ich mich oft fremd gefühlt, obwohl ich durch die Arbeit in der Schule gut eingebunden war und auch privat viele Menschen getroffen habe. Vielleicht habe ich mich fremd gefühlt, weil ich erst Anfang 20 war. Vielleicht habe ich mich fremd gefühlt, weil ich evangelisch-lutherisch aufgewachsen bin und nicht katholisch. Vielleicht habe ich mich fremd gefühlt, weil ich fremd war und auch so betrachtet wurde.
Trotzdem habe ich immer noch die Neugierde in mir, mal ein paar Monate in einem anderen Land zu leben. Einfach mal zu schauen, wie das Lebensgefühl in Paris oder Madrid ist, wenn ich dort leben würde. Aber ich würde nicht mehr so unbefangen gehen, wie damals nach Irland. Ich würde heute vorher schauen, welche Sehnsüchte mich eigentlich antreiben, in Paris und Madrid zu leben. Trotzdem bin ich froh, dass ich damals einfach nach Irland gegangen bin. Voller Vorfreude und Begeisterung.
Emigrieren würde ich wie gesagt nur, wenn mein Leben bedroht wäre. Im Deutschland von 1939 – 1945 (gerade mal ein menschenlebenlang her) wäre mein Leben bedroht gewesen. Da hätte ich einen Psychiatrieaufenthalt eventuell nicht überlebt. Wegen der Aktion „T4“ mit der sozial unerwünschte Menschen als „lebensunwert“ ermorden wurden. Dann hätte ich vielleicht nicht genug zu Essen bekommen oder ich wäre anders getötet worden. Ich habe mich während meines Aufenthalts in einer Fachklinik für Psychiatrie Anfang des Jahres mit einem Mitpatienten über das Thema unterhalten. Das war ein sehr bedrückendes Gespräch.
Sozial unerwünschte Menschen als „lebensunwert“ ermorden passiert nicht nochmal in Deutschland? Die AfD-Bundestagsfraktion hat im August 2019 eine kleine Anfrage im deutschen Bundestag gestellt. In der fragt sie, welche „volkswirtschaftlichen Verluste durch die nicht genutzten Erwerbspotenziale“ von Menschen mit psychischen und psychiatrischen Erkrankungen, die Erwerbsminderungsrenten beziehen, bestehen. Die Bundesregierung hat mit der Drucksache 19/13033 geantwortet. Solche Anfragen machen mir Angst. Denn ich stelle mir die Frage, was hat diese rechtsextreme Partei mit Menschen mit psychischen und psychiatrischen Erkrankungen vor?
Ich habe immer von mir gedacht, ich würde mich ganz stark einsetzen, wenn rechtsextremistische Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland wieder mehr Macht gewinnen. Heute frage ich mich, tue ich das? Ich bin auf die Straße gegangen und habe für die Aufnahme von Geflüchteten demonstriert. Ich habe einem Garten-Nachbarn im Schrebergarten gesagt, dass ich es falsch finde, dass er die AfD wählt, als er das ganz laut durch die Gartenkolonie gebrüllt hat. Aber ansonsten habe ich zum Glück unter meinen Freunden und Bekannten keine AfD-Wähler*innen oder Sympathisant*innen, aber damit auch keine direkten Kontakte zum Diskutieren und Gegenhalten.
Im Ernstfall, also dem Fall das ich emigrieren müsste, würde ich mir wünschen, ich hätte mich vorher genug für ein demokratisches Deutschland, in dem alle Menschen friedlich Leben können, engagiert. Also mehr als zur Wahl gehen und gelegentlich demonstrieren. Aber wann ist vorher? Ist jetzt nicht schon vorher?
Hallo Susanne,
So eine Frage habe ich mir auch schon gestellt: Wann würde ich dieses noch bunte Land verlassen, wenn es dreckig grau oder tief schwarz geworden ist? Wenn es mein Leben bedroht, dann muss ich weg! Wohin?
Ich kann die Amerikaner verstehen, die nach Californien oder New York emigrieren. Nur solche Orte haben wir hier nicht wirklich.
Ich bekomme auch Beklemmungen, wenn ich die geistige Enge der politischen Akteure sehe, die meinen gegen Rechts nichts tun zu müssen oder gar Rechts dazu benutzen, um sich Stimmen für die eigene Karriere zu besorgen. Wenn diese Menschen hier Regeln bestimmen, dann wird es mir zu eng, dann bedroht es mein Leben.
Als Jugendliche haben wir über einen reaktionären MP in Hessen gestaunt, als ob aus einem fernen Land berichtet wurde. Wir haben geglaubt, es liegt an den Alten, so wie mein Opa, der NPD gewählt hat – liegt es nicht. Das ist zeitlos, die wachsen nach. Sie sind schon wieder dabei Unheil anzurichten. Um es mal in der mir fremden Fussballsprache zu sagen: Nachher ist Vorher.
Aber weg möchte ich auch nicht. Ich erlebe Europa als bunt und vielschichtig. Als eine ganz besondere Mischung von Menschen. Ich möchte dass es das bleibt. Warum ich Europa sage? Weil ich zusammen mit Europa aufgewachsen bin. Weil mir diese Nationalstaaterei zu eng ist. Das ist wie in einer dieser engen Firmen, in denen man eine hohe Hierarchie aus vielen Abteilungen aufgestapelt hat, damit viele Angeber Chef sein können.
Schlimm ist, dass sich die Angeber gerade gegenseitig mit geistiger Enge überbieten müssen und die leider engen Horizonte vieler Menschen instrumentalisieren anstatt sie weit zu machen.
Zum Glück gibt es aber nicht nur Angeber, sondern auch viele tolle Menschen. Ich glaube ich schreibe nächstes Jahr meinen Abgeordneten in Europa, Berlin und Kiel regelmäßig Briefe und motiviere sie gezielt sich für mein buntes Europa, gegen die beklemmende Enge einzusetzen. Vielleicht frage ich sie auch, was ich als Einwohner tun kann, um sie dabei zu unterstützen. Ich bin gespannt. Wer nicht antwortet ist ein Angeber.
Danke für Deinen Blog-Artikel. Der hat bei mir jetzt viele Gedanken ins Rollen gebracht. Ich empfinde die Anfrage der AfD-Fraktion, insbesondere vor dem Hintergrund unserer Geschichte, als Bedrohung des Lebens. Sie bedrohen mich mehr als ich dachte.
Ingolf
Hallo Ingolf,
vielen herzlichen Dank für deinen ausführlichen Kommentar. Ich freu mich, dass mein Blogbeitrag bei dir Gedanken ins Rollen gebracht hat und dass du sie hier im Blog teilst.
Danke für den europäischen Gedanken und die Anregung, den Abgeordneten auf Landes-, Bundes- und Europaebene zu schreiben. Das finde ich einen guten Anfang, um sich zu engagieren. Das werde ich auch machen.
Viele Grüße
Susanne
Hallo Susanne,
Mit Interesse und Begeisterung habe ich diesen Teil deines Blogs gelesen.
Da ich politisch nicht so trainiert bin, war ich sehr entsetzt über die o.e. Aussage des Politikers, konnte dazu sehr gut nachvollziehen wie du dich gefühlt hast.
Ich schreib mal was aus der Sicht einer anderen Fraktion dazu. (Zwinker zwinker)
Ich gehöre zu Fraktion der Gläubigen( nicht zu verwechseln mit den Gutgläubigen und Naiven)und stelle in dem Kommentar von Ingolf und dir fest: egal ob politisch motiviert, wissenschaftsorientiert oder religiös getaktet, wünschen wir Menschen uns eine Welt ohne Vorurteile, Rassendiskriminierung , soziale Ausgrenzung, persönliches Miteinander und vor allem Toleranz und Respekt.
Ist es nicht genau das, was uns vom Tier zur Krone der Schöpfung machen kann, bewusst Respekt und Toleranz zu zeigen. Sich persönlich dafür entscheiden zu können…. jeder Hautfarbe, Nationalität, Zugehörigkeit, usw. gegenüber.
Ich finde es sehr interessant…… egal aus welcher Richtung ein weiser, denkender Mensch kommt(Politik Wissenschaft, Religion)
Wir wünschen uns ALLE eine Welt ohne Ausgrenzung mit Frieden und Sicherheit.
Mit ein wenig Zutrauen zu unserem Glauben an Gott und dem Umsetzen der christlichen Werte :“ Lieber deinen NÄCHSTEN WIE DICH selbst;“ werden wir das erleben.
Ach so, dann ist Emegrieren nicht mehr nötig, dann sind wir überall zu Hause und fühlen uns trotz kultureller Unterschiede( was ein Glück) überall willkommen und die Frage, ob ich Kosten verursache oder ein anderer mir Kosten verursacht steht nicht mehr zur Debatte. Tun wir jetzt was für’s Miteinander… so wie jeder kann und mag.
Ich finde den Begriff Weltbürger in diesem Zusammenhang schön…. werden wir Weltbürger.
Dann hat sich mein Glaube und meine Hoffnung erfüllt.
Mögen sich eure Hoffnungen und Wünsche ebenfalls erfüllen.
Alles Liebe und ganz ganz lieben Dank für deinen tollen Blog
Silke
Ist ein wenig an der eigentlichen Fragestellung vorbei… aber wenn alle in Frieden und mit Respekt miteinander auskommen, dann ist emigrieren nicht mehr nötig.
Also , die Lösung ist für mich nicht Ortswechsel sondern Charakteränderung des Einzelnen. Vielleicht die Aufgabe für 2021.( zwinker zwinker)
Nu aber, eine schöne Restwoche.?
[…] noch mehr unter der Überschrift „Writer’s Club“. Auf jeden Fall hat sie mich besonders mit ihrer Antwort auf Frage 11 „Warum würdest Du emigrieren/ auswandern?“ beeindruckt. Danke für deine […]