Die Luft standt feucht warm über dem Schrevenpark, das erste Laub verfärbte sich rot und auf einem Steg im Kieler Schrevenpark hockte eine Frau und starrte auf den Schreventeich. Ihre Augen starrten ins Leere während hinter ihr Spaziergänger*innen entlang gingen. Sie war heute nicht einfach eine Spaziergängerin oder jemand, der die Ruhe in der Natur genoss. Nein – sie war eine Krimiautorin, die bei dem Versuch vor den schwierigen Szenen in einem ihrer Krimiprojekte zu fliehen den Geistern ihrer Vergangenheit begegnet war.
Die Szene könnte in einer ihrer Geschichten vorkommen: die Krimiautorin, allein im Park, gefangen in ihrer eigenen Geschichte. Sie hatte die Grenze überschritten. Nicht freiwillig, sondern aus Versehen. Sie hatte eine Krimiserie auf Netflix angeschaut, anstatt an ihrem eigenen Krimi weiter zu schreiben. Stimmungen und Themen in der Serie waren ihr sofort vertraut gewesen. Zu vertraut.
Plötzlich tauchten Schmerzen aus ihrer eigenen Vergangenheit auf. Es war, als hätten die Drehbuchautoren einen direkten Zugang zu ihrem Kopf, ihren Gefühlen, ihrer Vergangenheit gefunden. Exakt der Schmerz vor dem sie hatte fliehen wollen, indem sie nicht weiter an ihrem Krimi schrieb. Sie fühlte sich wund, dünnhäutig, verletzlich.
Versteckt hatte sie ihre Gefühle an diesem Tag hinter einer funktionierenden Fassade: spazieren gehen, kochen, einen Nachmittagscappuccino im Café trinken, Smalltalk, nochmal spazieren gehen und auf den Schreventeich starren. Nicht nur Fassade, sondern auch stabilisierende Tätigkeiten.
Vielleicht brauchte es genau dieses wunde, dünnhäutige, verletzliche um weiter an dem Krimi zu schreiben. Vielleicht hatte sie sich mit der Serie genau so weit geöffnet, wie es nötig war, um weiter an dem Krimi zu schreiben. Das waren neue Gedanken.
Die Gedanken in ihrem Kopf fühlten sich anders an, als wäre sie durch ihren Schmerz an etwas gelangt, das sie bisher nicht sehen konnte. Es war Zeit, wieder zu dem Krimi zurückzukehren und weiter zu schreiben. War sie wirklich bereit? Sie hatte lange versucht, diesen Punkt zu vermeiden. Das Eingeständnis, dass sie ihre eigenen Dämonen konfrontieren musste, um weiter zu kommen.
Vielleicht war die Krimiserie genau der Auslöser, den sie gebraucht hatte, um klarer zu sehen. Sie hatte gespürt, wie der Krimi auf dem Bildschirm sich mit ihrer eigenen Vergangenheit verwoben hatte. Aber anstatt auszuschalten hatte sie es geschehen lassen. Jede Folge hatte sie weiter in ihre eigene Geschichte gezogen. Und jetzt hier im Schrevenpark merkte sie, dass der Zeitpunkt gekommen war, an dem sie aufhören musste sich zu verstecken.
Sie war nicht länger die Frau, die vor ihrem Projekt flüchtete. Nein, sie war die Frau, die die schmerzhaftesten Kapitel ihres Lebens in die Hand nahm, um sie in etwas Größeres zu verwandeln. In eine Geschichte, die nicht nur die Wahrheit enthielt, sondern auch die Macht, ihren Schmerz zu heilen.
Es war genau ihr Wundsein und ihre Offenheit, die sie brauchte, um den nächsten Schritt zu gehen. Ihre Protagonistin wartete darauf, dass sie ihr die gleiche Verletzlichkeit erlaubte, die sie gerade in sich selbst spürte, damit die Geschichte weiter gehen konnte.
Sie schaute auf den Schreventeich, diesmal würde sie sich dem stellen, was sie so lange vermieden hatte. Sie würde schreiben, was geschrieben werden musste.