Heute habe ich mich wieder mit meiner Schreibgruppe auf Zoom getroffen. Eine Autorin ist gerade mit dem Boot in Frankreich unterwegs und war heute aus Bordeaux dabei. Bei ihr war im Hintergrund ein schöner Park und abendliches Sonnenlicht zu sehen. Sie erzählt jedes Mal ein bisschen von ihrer Reise und nimmt uns so ein bisschen mit.
Bei mir hat das heute Reisesehnsucht hervorgerufen. Deswegen habe ich mein Reisenotizbuch von 2014 herausgesucht und darin gelesen. In Bordeaux habe ich nur einen Eintrag gemacht: Am 25. Juni 2014 habe ich mittags vorm und im Bahnhof gesessen und Bahnhofsnotizen gemacht.
Bordeaux
Vorm Bahnhof, 12:09 Uhr
Von weitem höre ich einen Mann schreien. Ich verstehe nicht, was er ruft. Er spricht laut, deutlich und trotzdem weinerlich auf Französisch. Drei Sicherheitsmänner von SNCF stehen vorm Bahnhof und schauen. Dann gehen sie wieder in das Bahnhofsgebäude hinein.
Der Mann schreit jetzt sehr laut. Dann schmeißt er sich auf den Steinboden. Ein Mann, der ihn zu begleiten scheint, raschelt und schlägt mit einer schweren Metallkette auf den Steinboden. Der Mann auf dem Boden sagt etwas über maman und papa. Die Metallkette raschelt und schlägt. Der Mann auf dem Boden wird ruhig. Die Sicherheitsmänner kommen wieder. Sie reden mit dem Mann am Boden. Halten Abstand. Sie ziehen ihre Lederhandschuhe an. Einer telefoniert. Sie reden miteinander. Sie reden nicht mit dem Kettenrassler.
Jetzt klopft einer der Sicherheitsmänner dem Mann am Boden locker auf die Schulter. Der Mann ist jetzt still. Andere Menschen fragen die Sicherheitsmänner nach dem Weg. Sie antworten ruhig. Die Sicherheitsmänner tragen blaue Kampfanzüge, schwarze Stiefel und Ausrüstung an einem schwarzen Gürtel. Sie schauen die Menschen an, die in den Bahnhof hinein und aus dem Bahnhof hinaus gehen. Einer schaut auf seine Armbanduhr. Haben sie die Polizei gerufen? Was wird passieren? Sie stehen in einem lockeren Dreieck um den Mann am Boden herum.
Ich sitze auf einer Steinmauer und bekomme einen kalten Hintern.
„Jou ette dou la“, sagt der Mann auf dem Steinboden. Er scheint mit seinen Dämonen zu kämpfen und zu reden.
Im Bahnhof, 12:29 Uhr
„Dippdappdadapp … á destination … il deservira …“, schallt aus einem Lautsprecher. Im Bahnhof ist es warm im Vergleich zum Schatten vorm Bahnhof. Jemand spielt Klavier. Schön und voll. (Das Klavier auf diesem Bahnhof ist schwarz. Ich bin fasziniert, dass bisher auf jedem Bahnhof in Frankreich ein Klavier steht und zum Spielen auffordert.) Wann nehme ich mir die Zeit dafür, es zu üben und zu spielen? Sehnsucht nach Musik, Klang und Kunst.
Mir gegenüber steht ein Photomaton wie aus „Die fabelhafte Welt der Amelie.“ Jetzt hat sich ein weißhaariger Mann auf den Mittelplatz der Bank, auf der ich sitze, gesetzt. Der Mann ist unruhig, wackelt hin und her, drückt sich in die Bank, drückt mit den Füßen auf den Bahnhofsboden, schaut auf seine Armbanduhr. Bei jeder seiner Bewegungen wackelt die Bank.
Auf dem Bahnhof hängt an einer der Stirnseiten eine Landkarte vom südlichen Frankreich. Sie ruft in mir romantische Reisegefühle hervor und eine Erinnerung an den Film Casablanca. Reisen ist nicht immer so romantisch. Manchmal ist man dabei nackt nach einer Häutung. Oder die neue Haut ist noch zart. Und schon wieder spielt jemand üppig und voll Klavier. Tränen rollen aus meinen Augen. Vielleicht schmilzt etwas.